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Nun sind es also vier Jahre (am 12.08.19) seit ich den Schritt gewagt habe nach Argentinien auszuwandern. Vier Jahre, in welchen ich so einiges erlebt und gelernt habe. Über “das Leben”, mich selbst und natürlich vor allem über Argentinien und seine Einwohner.

Wie jedes Land hat auch Argentinien seine charakteristischen Eigenschaften und Eigenheiten. Manche positiv, manche überraschend und manche eher negativ - oder zumindest gewöhnungsbedürftig. Auf jeden Fall für einen Mitteleuropäer. Welche die für mich wichtigsten Eindrücke aus diesen vier Jahren sind – und was Dich bei einem Auslandsaufenthalt in Argentinien erwartet - das will ich Dir in diesem Beitrag verraten.

1. Fleisch, Fleisch, Fleisch - und nochmal Fleisch

Argentinien liegt beim Fleischkonsum weltweit an dritter Stelle (OECD, 2015). Nach den USA (welch Überraschung), Australien und knapp vor Israel. Dann kommt einmal eine Zeit lang nichts bis zum Fünften Brasilien.

Nicht sehr verwunderlich ist Fleisch und sein Verzehr deshalb allgegenwärtig. Will man die argentinische Küche kurz und knackig umreißen, dann kann man dies am besten mit der folgenden Abkürzung - PFP. Heißt so viel wie Pizza, Fleisch und Pasta.

meat on the grill

Das argentinische staple-food - Fleisch.

Ich persönlich bin ein großer Fan des argentinischen Asado. Oder allgemein von Fleisch. Von dem her habe ich es vergleichsweise leicht. Vegetarier tun mir da manchmal schon eher leid. Nicht nur, dass es als solcher beinahe unmöglich ist, halbwegs vernünftig auswärts zu essen. Nein, zusätzlich sind diese konstantem “Spott und Hohn” ausgesetzt
(dass dieser in der Regel nicht so ernst gemeint ist, siehe Abschnitt 7 “der argentinische
Humor”).

Nur zu gut kann ich mich an einen Asado erinnern, bei welchem dem einzigen anwesenden Vegetarier “morcilla” (Blutwurst) unter seinen Salat gemischt wurde. Sehr zur Belustigung der restlichen Anwesenden.

2. Der argentinische Fußball

Fußball ist Trend. Fußball ist Mode. Und das nicht nur in Argentinien klarerweise, sondern in der ganzen Welt. Vorbei die Zeiten, in welchen die großen Stars weniger verdienten als heutzutage ein Amateurkicker der Kreisliga C.

Was den argentinischen Fußball (und die Fußballfans) dennoch besonders macht, ist der gesellschaftliche Stellenwert, welchen das Spiel einnimmt. Fußball ist fester Bestandteil der Gesellschaft und des Lebens in Argentinien.

Dabei ist die argentinische Liga jetzt nicht unbedingt die attraktivste. Spielen doch alle großen Stars in Europa - oder inzwischen auch China. Genauso ist jedem im Prinzip bewusst, dass es sich beim argentinischen Fußball um eine durch und durch korrupte Schmierenkomödie handelt. Paradebeispiel: Die gescheiterte Wahl des Showstars Marco Tinelli zum Präsidenten der AFA (des argentinischen Fußballverbandes), als eine Stimme mehr abgegeben wurde als Delegierte wahlberechtigt waren.

Dennoch ist es in Argentinien schlichtweg unmöglich sich NICHT für Fußball zu interessieren. Oder gar keinen argentinischen Lieblingsverein zu haben. Zugegeben - ohne Fußball nimmt man sich ein Stück Sozialleben und ein großes Stück Gesprächsstoff für Smalltalk.

Somit muss, wer in Argentinien lebt und nicht als weltfremder Außenseiter angesehen
werden möchte:

● Einen Lieblingsclub wählen (und diesem treu bleiben).
● Immer auf der Höhe der Zeit und gut informiert über die aktuellen Geschehnisse in Liga und Nationalteam sein.
● Auch die vielen argentinischen Legionäre im Ausland unter steter Beobachtung halten.

3. Der Umgang mit Geld im Allgemeinen und die argentinischen Geldscheine im Speziellen

Während in Europa der Euro und all seine Erscheinungsformen quasi eine heilige Kuh sind - und das Vernichten, Verunstalten oder auch nur falsche Falten eines Geldscheines eine blasphemische Handlung - ist der Umgang der Bevölkerung mit dem argentinischen Peso ein ganz anderer.

Vor allem bedingt durch ihre Instabilität hat die Landeswährung schon lange den Respekt der Argentinier verloren. Was morgen schon nicht mehr wert sein kann, als ein Stück (benutztes) Klopapier, wird auch nicht viel anderes behandelt. Es wird beschmiert, zerknüllt, umgestaltet und in Socken sowie Unterwäsche gestopft. In dem entsprechenden Zustand
sind viele der im Umlauf befindlichen Geldscheine. Vor allem die mit kleinerer Denomination - also alles unter 100 Peso.

dos pesos with painting                                               

Das Verzieren von Geldscheinen ist in Argentinien nichts Ungewöhnliches, sondern eher etwas Alltägliches. Dieses Beispiel hier ist künstlerisch sogar noch recht anspruchsvoll. Andere hingegen nicht so ganz.

Geld ist im Wesentlichen also immer noch das, was es eigentlich einmal war. Ein Tauschmittel ohne reellen Wert. Einmal kann mit ein paar Scheinen mehr eintauschen, einmal weniger. Punkt. Und so wird mit diesem auch umgegangen. Eventuell gar keine schlechte Sichtweise.

4. Leben auf Kredit

Eng mit Punkt 3 (und der Instabilität der Währung und des Landes) verbunden, ist der “argentinian way of life” alles, aber auch wirklich alles, mit Karte zu bezahlen. Ich habe schon Extremfälle erlebt, in welchen eine kleine Cola und Zigaretten mit der Kreditkarte beglichen wurden.

So leicht wie es hier ist eine Kreditkarte zu erhalten, wundert dieses Verhalten aber auch nicht wirklich. Eröffne ein Bankkonto und Dir wird eine Kreditkarte dazu angeboten. Eröffne ein weiteres Konto bei einer anderen Bank und staube noch eine Kreditkarte ab. Ein Telefonvertrag - ohne Kreditkarte kann der schon gar nichts. Die Punktekarte des Disco (Anmerkung: Eine große Supermarktkette) - richtig, hier gibt es ebenso eine Kreditkarte als Geschenk dazu.

Die Auswirkung davon ist ein extrem leichtsinniger Umgang (mit eigentlich nicht vorhandenem) Geld und das Anhäufen von Schulden. Vor allem, weil nicht nur alles mit Kreditkarte, sondern zusätzlich auch noch in “cuotas” (Raten) bezahlt werden kann.
Inzwischen in bis zu 18 - in Abhängigkeit von Warenwert und Verkäufer. Schön 2001er- Style.

Wohin das alles am Ende führt (sowohl beim Land selbst als auch seinen Einwohnern), hat man zwar nicht erst einmal gesehen, ist aber teilweise sogar eiskalte Spekulation. Wenn irgendwann sowieso alles zusammenbricht, was macht es dann, falls ich Schulden habe. Richtig - nicht viel. Im schlimmsten Fall nimmt man mir eben wieder weg, was sowieso nie
wirklich mir gehört hatte.

5. Alambre y adaptadores

Schon einmal etwas mit “alambre” (Draht) repariert? Nein? - Gut, hat wahrscheinlich noch nie jemand (außer MacGyver). Die Chancen etwas mit einem Stück Draht dauerhaft wieder zum Funktionieren zu bringen, stehen nämlich durchwegs schlecht. Macht nichts, in Argentinien ist Draht immer noch das Mittel der Wahl falls

a) der Vergaser geplatzt,
b) die Großmutter kurz vor dem Erstickungstod,
c) das Haus in Brand,
d) oder auch der Staat wieder einmal bankrott ist.

Hilft meistens nicht viel, jedoch ist es günstig, einfach und hat zusätzlich den positiven Nebeneffekt, dass bald wieder repariert (und damit kassiert) werden kann.

Mit “adaptadores” beziehe ich mich auf die in jedem Haushalt zuhauf vorhandenen Zwischenstecker. Diese sind notwendig, weil es in Argentinien einerseits keine Norm für Stecker und/oder Steckdosen gibt. Und andererseits aufgrund der hohen Inlandspreise jeder Argentinier von jeder Auslandsreise (oder Shoppingtour nach Chile) eine Wagenladung Elektrogeräte mitbringt. Die in der Regel ebenso ihre eigenen Stecker besitzen und Anschlüsse verlangen.

6. Schlange stehen

So chaotisch vieles (oder so gut wie alles) hier im Land ist, eine Sache nehmen die Argentinier mehr als ernst. Das Anstehen in laaangen Reihen und das Einhalten der Reihenfolge innerhalb von diesen. Ist der Argentinier sonst grundsätzlich immer zu einem Späßchen aufgelegt - auch in den scheinbar unpassendsten Situationen (siehe Punkt 7) - bei dieser Sache versteht er keinen Spaß. Keinerlei. Und läuft dabei sogar den Schweizern in Sachen Pingeligkeit mit Leichtigkeit den Rang ab.


Falls Du also einmal in Argentinien zu Besuch sein solltest, erspare Dir den Faux-Pas Dich mit deutscher Ellbogentechnik nach vorne kämpfen zu wollen. Du würdest Dich dabei nur in ein Minenfeld aus Fettnäpfchen und in ein Gewitter von Schimpftiraden begeben. Stehst Du in einer Schlange, heißt es schlichtweg Geduld haben. Mach es dabei doch einfach wie die Einheimischen - und das Beste aus der Situation. Beginne ein Schwätzchen mit Deinem Vorder- bzw. Hintermann. Oder auch mit beiden gleichzeitig.

7. Humor

Wie unter Punkt 6 schon angesprochen, ist Humor ein wichtiger - Nein, ein essentieller - Teil des (Sozial)lebens in Argentinien. Die passendsten (und unpassendsten) Situationen werden mit einem kleinen Späßchen aufgelockert. Oder für so manchen Neuankömmling etwas unangenehm gestaltet.

Mit dem argentinischen Humor ist es deshalb so, dass man ihn entweder liebt oder hasst. Ist er doch teilweise recht freizügig - im besten Fall - bis hin zu Recht politisch unkorrekt. Wie man bei uns sagen würde.

Werden hier doch ohne große Hemmungen Übergewichtige als “gordo”, Dunkelhäutigere als “negro” oder auch Hellhäutige als “gringo” bezeichnet. Um nur ein paar der harmloseren zu nennen. Oder denken wir zurück an den Scherz mit der Blutwurst und dem Salat.

Will man allerdings in dieser Hinsicht mit den Argentiniern mithalten, dann sind zwei Dinge gefragt. Schlagfertigkeit (einer der Aspekte des “ser vivo”) und Standfestigkeit (weil man auch gut einstecken können muss).

Falls Dir diese beiden Dinge nicht zu eigen sind, dann halte Dich in einer heiteren (oder noch besser feucht-fröhlichen) Runde besser im Hintergrund. Willst Du jedoch jemals als vollwertiges Mitglied der argentinischen Gesellschaft akzeptiert werden, dann ist eine gehörige Portion argentinischer Lebensfreude nur einer der vielen dazu notwendigen Bausteine.

invitation card

Ein typisches argentinisches Meme. Aus einer eigentlich alles andere als unterhaltsamen Situation (explodierende Arbeitslosigkeit, explodierende Armut und explodierende Inflation) einen Witz machen. In diesem Fall die Einladung zu der ersten Hyperinflation - im Stil der Einladung zu einem Kindergeburtstag.

8. Tierliebe

Die Argentinier (bzw. vor allem die argentinischen Frauen) lieben Ihre Tiere. So sehr, dass es teilweise schon bizarre oder leicht krankhafte Formen annimmt. Ich bin nicht erst einmal bei einer Familie zu Gast gewesen, die fünf Hunde, acht Katzen und drei Schildkröten ihr Eigen nannte. Die tierischen Mitbewohner werden darüber hinaus in der Regel wie Familienmitglieder, und oft besser als die eigenen Kinder, behandelt.

Nicht falsch verstehen - ich selbst habe zwei Katzen und zwei der vom Aussterben bedrohten argentinischen Schildkröten. Von denen ich die eine in einem Hostel aus einem als Aschenbecher verwendeten Blumentopf gefischt habe. Und die andere wurde schon in Gefangenschaft geboren und als Gefährtin für die erste besorgt. Nur irgendwann hat die “Tierliebe” auch ihre Grenzen. Für mich zumindest - für viele Argentinierinnen eben nicht.

Kritische Stimmen behaupten dabei sogar, dass in Argentinien Hunde oft wie Kinder behandelt werden. Für deren Rechte aktiv gekämpft und protestiert werden muss. Während gleichzeitig echte Kinder, welche auf der Straße leben und von irgendwelchen Rechten (oder einer warmen Mahlzeit) nur träumen können, jedem am Arsch vorbeigehen. Auf gut
Deutsch gesagt.

9. Argentinien - das gespaltene Land

In Argentinien gibt es keine Mitte. Oder gar einen Konsens. Man muss immer zwischen zwei Extremen entscheiden. “Macrista” oder “Kirchnerista”. “Zurda” oder “Cheto”. “Abortista” oder “Pro-Vida”. “Boca” oder “River”. Das Land ist tief gespalten - und das merkt man. Wem das allerdings nützt - man fragt es sich.


Denn neben der tief in der Gesellschaft verankerten Korruption ist diese Spaltung sicherlich der zweite entscheidende Faktor, warum Argentiniens Geschichte einer Achterbahnfahrt ähnelt. Periodische Auf-und-Abs. Fortschritt gefolgt von Rückschritt. Und viel Talent, welches in der Vernachlässigung verkommt. Tja, leider…

Denn solange diese Gräben nicht geschlossen werden und das argentinische Volk von Jujuy bis nach Feuerland nicht gemeinsam an einem Strang zieht. Solange wird auch dieses Auf- und-Ab kein Ende nehmen.

Schade für ein Land, welches so reich und vielfältig ist - an Bodenschätzen, an Landschaften und genauso an Menschen - und welches das Potential hätte zu den Top- Nationen dieser Erde zu gehören. Und zu diesen auch schon gehörte.


Anmerkung zum Abschluss: Obwohl ich teilweise einen vielleicht eher kritischen Tonfall anschlage, möchte ich mit diesem Text keinesfalls aussagen, dass ich nicht zufrieden mit dem Land und meinem Leben hier bin. Oder gar Pläne hätte in absehbarer Zeit das Land zu verlassen. Im Gegenteil. Im Moment geht meine Planung eher dahin, dass ich langfristig hierbleiben und sesshaft werden möchte.


Denn trotz seiner Probleme und manchen Tagen, an welchen ich am liebsten alles hinschmeißen und ins nächste Flugzeug steigen möchte, habe ich mich schon lange in das Land und seine Leute verliebt. Und vor allem auch in seine hübschen Frauen. 

Mag sein, das alles “etwas” chaotisch ist und die Dinge manchmal nicht ganz so funktionieren, wie man das vielleicht gerne hätte. Mag sein, dass die Argentinier es immer wieder aufs Neue schaffen einen (negativ) zu überraschen. Mag sein, dass man nie weiß, was morgen sein wird - oder auch nur am Abend des gleichen Tages.

Aber ist nicht genau das das Schöne. Dass man hier nicht in einem monotonen Alltagstrott gefangen ist. Man tagein-tagaus die gleichen 127 Handgriffe und Schrittfolgen abfrühstückt.

Dass hier das Leben noch ein bisschen eine Herausforderung ist. Und vor allem frei. Dass man hier die Freiheit hat zu tun und zu lassen, was man will - solange man niemand anderem direkt gegen die Karre fährt. Und naja - genau diese Freiheit nehmen sich eben alle anderen auch.

Wer Verpflichtung, Ordnung und Regelmäßigkeit sucht, der ist kurz gesagt einfach im falschen Land. Zum Glück gibt es noch gute 200 weitere auf der Welt zum Aussuchen. Mit anderen Kulturen, anderen Menschen und anderen Formen des Zusammenlebens. Ich persönlich habe meinen Hafen in Argentinien und in Córdoba gefunden. Euer Jeremy- James.

 

Über den Autor: Jeremy-James ist Ex-Österreicher und Ex-Naturwissenschaftler, der mit 34 Jahren alles und stehen hat lassen, um in Südamerika und Argentinien noch einmal neu anzufangen. 4 Jahre später hat er zwar immer noch keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung, aber dafür seinen Platz schon lange gefunden. Über Wasser hält er sich inzwischen in und mit verschiedenen Online-Projekten wie z. B. Sprachheld oder Netzbekannt.

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